"Viele ziehen sich zurück und vertrauen niemandem"
Zwan Karim leitet seit Januar 2025 das Therapiezentrum für Menschen nach Folter und Flucht der Caritas in Köln.Foto: DiCV Köln | Jo Schwartz
Caritas in NRW Wie schätzen Sie die psychische Belastung von geflüchteten Menschen in Deutschland ein - und was sagen aktuelle Zahlen dazu?
Zwan Karim: Die psychische Belastung ist enorm - das erleben wir bei uns jeden Tag. Das zeigen außerdem viele Studien. Geflüchtete leiden deutlich häufiger unter psychischen Erkrankungen als die Gesamtbevölkerung. Eine systematische Auswertung von über 30 wissenschaftlichen Untersuchungen hat ergeben: Etwa 30 Prozent der geflüchteten Menschen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), rund 40 Prozent zeigen depressive Symptome. In der Allgemeinbevölkerung liegen diese Zahlen deutlich niedriger. Auffallend ist, dass die Belastung stark variiert - je nach Herkunftsland, Fluchterfahrung, erlebter Gewalt und Dauer des Aufenthalts in Deutschland.
Caritas in NRW: Gibt es Gruppen, die besonders gefährdet sind, etwa Kinder und Jugendliche?
Zwan Karim: Ja, insbesondere Kinder und Jugendliche gelten als besonders vulnerable Gruppen. Sie sind nicht nur den Belastungen der Flucht ausgesetzt, sondern auch den oft schwierigen Lebensbedingungen nach der Ankunft in Deutschland. Selbst nach zwei Jahren oder mehr sind Symptome wie Depressionen, Angststörungen und Schlafprobleme häufig. Erschwerend kommt hinzu: Unsichere Wohnsituationen und fehlende schulische oder soziale Strukturen und Diskriminierung führen dazu, dass sich viele Kinder nie wirklich stabilisieren.
Caritas in NRW: Trotz der offensichtlichen Belastungen - haben Betroffene überhaupt ausreichend Zugang zu psychotherapeutischer Hilfe?
Zwan Karim: Leider ist die Versorgungssituation dramatisch unzureichend. Viele Betroffene kämpfen mit Sprachbarrieren, komplexen Anträgen und bürokratischen Hürden - selbst dann, wenn ein Bedarf eindeutig vorliegt. Zudem fehlen schlichtweg Therapieplätze. In unserem Zentrum stehen aktuell 73 Kinder und 62 Erwachsene auf der Warteliste. Und die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz liegt bei anderthalb Jahren. Diese Verzögerungen führen dazu, dass sich Krankheitsbilder verfestigen - oder sich überhaupt erst neu entwickeln.
Caritas in NRW: Mit welchen Krankheitsbildern sind Sie in Ihrer täglichen Arbeit am häufigsten konfrontiert?
Zwan Karim: Am häufigsten behandeln wir die posttraumatische Belastungsstörung - eine Reaktion auf außergewöhnlich belastende Situationen wie Krieg, Folter, Verfolgung, massive Gewalt oder eine traumatische Flucht. Typische Symptome sind Flashbacks, Albträume, übersteigerte Reaktionen auf Reize oder anhaltende Schlafstörungen. Oft berichten die Betroffenen auch von ständiger Anspannung und einem Gefühl, nicht mehr sicher zu sein - selbst in einer eigentlich sicheren Umgebung. Ebenso verbreitet sind psychosomatische Störungen, also körperliche Beschwerden wie Schmerzen, Magen-Darm-Probleme oder Erschöpfungszustände, für die es keine organisch erklärbare Ursache gibt. Diese Reaktionen treten besonders häufig dann auf, wenn Menschen keinen Zugang zu geeigneter psychotherapeutischer Unterstützung haben.
Caritas in NRW: Wie können Sie hier konkret helfen?
Zwan Karim: Für geflüchtete Menschen mit psychischen Problemen bieten wir Einzel- und Gruppentherapien an. Aktuell nutzen wir in einer Frauengruppe eine Methode, die sich "Desensibilisierung und Neuverarbeitung durch Augenbewegungen" nennt. Dabei werden traumatische Erfahrungen durch geleitete Augenbewegungen verarbeitet. Eine kunsttherapeutische Gruppe für Mädchen ist in Planung. Ergänzend begleiten wir die Klientinnen und Klienten psychosozial - etwa bei Behördenkontakten, Gesundheitsfragen oder familiären Belastungen. Wir bieten außerdem eine offene Anlaufstelle für Geflüchtete zu aufenthaltsrechtlichen Fragen an, darüber hinaus suchen wir die Menschen in den Unterkünften auf.
Caritas in NRW: Seit der großen Fluchtbewegung 2015 sind zehn Jahre vergangen. Haben sich die Belastungen der Geflüchteten in dieser Zeit verändert?
Zwan Karim: Ja, durchaus. Die Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 zu uns kamen, hatten oft schwere Traumata aus dem Herkunftsland oder der Flucht selbst im Gepäck. Heute rücken zusätzlich sogenannte postmigratorische Stressfaktoren stärker in den Vordergrund. Dazu gehören zum Beispiel lange und unsichere Asylverfahren, drohende Abschiebungen, der fehlende Zugang zu Bildung oder Arbeit, soziale Ausgrenzung oder beengte Wohnverhältnisse. Diese Faktoren können bestehende psychische Erkrankungen verschärfen - oder neue auslösen. Wir beobachten immer wieder: Je länger der Aufenthalt ungeklärt bleibt, desto stärker wird die psychische Belastung.
Caritas in NRW: Welche konkreten Folgen hat das für die Betroffenen?
Unsichere Wohnsituationen und fehlende schulische oder soziale Strukturen belasten viele Geflüchtete.Foto: DiCV Köln
Zwan Karim: Die psychische Stabilität leidet massiv. Viele Menschen geraten in eine Abwärtsspirale: Die bereits vorhandenen Symptome verstärken sich - und es entsteht eine tiefe Hoffnungslosigkeit. Ohne Perspektiven, ohne gesellschaftliche Teilhabe und ohne sicheren Aufenthaltsstatus fällt es schwer, sich zu erholen. Viele ziehen sich zurück, vertrauen niemandem mehr - auch nicht den Behörden oder Hilfsstrukturen. Das macht Hilfe noch schwieriger.
Caritas in NRW: Wie wirkt sich die aktuelle politische Stimmung in Deutschland auf die psychische Verfassung von Geflüchteten aus?
Zwan Karim: Die migrationspolitische Debatte hat einen enormen Einfluss - unabhängig vom rechtlichen Status der Menschen. Auch Geflüchtete mit anerkanntem Schutzstatus oder einem dauerhaften Aufenthaltstitel berichten, dass sie sich zunehmend bedroht fühlen. Öffentliche Diskussionen über Rückführungsabkommen, Gesetzesverschärfungen oder die pauschale Schuldzuweisung an Geflüchtete sorgen für Verunsicherung, Angst und Rückzug. Viele fühlen sich nicht mehr willkommen. Das verstärkt das Gefühl der Ausgrenzung und untergräbt jede Form von Stabilität.
Die Fragen stellte Markus Harmann.